A. M. Hocart   Psychologie und Völkerkunde – Vortrag gehalten auf der Versammlung der Folk-Lore Society, London, 20. Januar 1915

 

Die Vorstellungswelt unserer heutigen Generation unterscheidet sich in so vieler Hinsicht von derjenigen unserer Väter, daß wir geneigt sind zu glauben, es müsse sich auch unser Geist radikal verändert haben, um all die neuen Gedanken denken zu können. Tatsächlich bewegt sich unser Denken aber nach wie vor auf den schmalen Pfaden der Wissenschaft, eingeengt von Daten und Fakten, die sich wie Wände links und rechts von uns auftürmen. Nur wenn sich ein neues Forschungsgebiet auftut, in dem es noch keine vorgegebenen Pfade gibt, kann sich unser Denken wieder frei bewegen und unbekümmert umherschweifen. In dieser Situation befindet sich gegenwärtig die Völkerkunde. Sie ist eine Spielwiese für Spekulationen, fühlt sich frei von den Zwängen der strengen Wissenschaft.

 

Immer umfangreichere Kompendien und Datensammlungen, bewundernswerte Fleißarbeiten, mögen uns zuweilen die Illusion verschaffen, die heutige Anthropologie habe die Methodik von Hobbes und Locke ein für allemal hinter sich gelassen. Doch von der immensen Fülle an mühsam zusammengetragenen Daten wird nur ein verschwindend geringer Teil verwendet, um aus ihm Schlüsse zu ziehen – der Teil, der zur jeweiligen These paßt. Und wir müssen die restlichen Daten nicht kennen, um die These zu verstehen. Unsere Methodik ist noch immer die von Hobbes und Locke: Angesichts eines Brauchs fragen wir uns als erstes, zu welchem Zweck mag er aufgekommen sein? Wir stellen uns einen Zweck vor, und diesen Zweck postulieren wir als den Ursprung des Brauchs. Wir schlußfolgern etwa, daß das Bedürfnis der Menschen nach Frieden und Sicherheit der Ursprung der modernen Regierung war; daß eine Abneigung gegen Inzucht zur Exogamie geführt hat. Wie gehabt wird die Menschheitsgeschichte im Licht einer rational-zweckorientierten Psychologie betrachtet. Wie auf einer Bühne haben wir bislang geistig hochentwickelte Weiße dabei beobachtet, wie sie einen Kontrakt schließen zur Beendigung einer Fehde; jetzt beobachten wir «geistig träge» Australneger dabei, wie sie im Stammesrat überlegen, wie der schädlichen Auswirkungen der Inzucht zu wehren sei. Bislang galt als der vornehmste Zweck der Religion die philosophische Ergründung der «Erstursache»; jetzt begnügt man sich damit, daß sie auf ihre Weise Naturerscheinungen gedeutet habe.

 

Eine Sitte oder einen Brauch zu erklären als das Resultat einer rationalen Entscheidung, erklärt gar nichts. Es bedeutet, Zuflucht zu einem Ereignis zu nehmen, für das wir keine Zeugnisse haben und nie welche auftreiben werden. Es bedeutet, unserer Unwissenheit den Sieg zu überlassen. Es ist das Eingeständnis, daß wir der Sache nicht gewachsen sind, da der ursprüngliche Gedanke in dem dunklen, unentwirrbaren Labyrinth des menschlichen Geistes mit seinem Träger vor Tausenden, ja Abertausenden Jahren verloren gegangen ist. 

 

Man mag einwenden, daß es in dieser Frage nicht darum geht, ob uns dieser Umstand gefällt oder nicht, sondern nur, ob er zutrifft oder nicht. Tatsache ist, daß die Menschen gezielte Überlegungen anstellen und Entscheidungen treffen, daß sie Erfindungen machen. Man denke etwa an den modernen Roman, der keine traditionellen Handlungsmuster verwendet. Er entspringt dem menschlichen Geist, folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten und bestimmten Mustern. Aber die bei der Niederschrift ablaufenden Prozesse sind so komplex, die dem Autor als Muster dienenden Vorbilder so zahlreich, daß es uns am Ende unmöglich ist, den fertigen Roman in all jene Einzelteile zu zerlegen, aus denen er sich zusammensetzt. Wir können ihn in der Folge nur als das beschreiben, was er ist – ein in sich geschlossenes Werk der Phantasie. Was nichts anderes bedeutet als, daß wir nicht wissen, was es ist.

 

Doch dieser Einwand trifft die Sache nicht, denn die Handlung eines modernen Romans ist nicht die Schöpfung von Gesellschaftlichem, sie wird nicht zu einer gesellschaftlichen Institution. Sie ist nicht von ethnologischem Interesse, jedenfalls so weit es die eigentliche Intrige der Handlung betrifft, die ihren Ursprung in der individuellen Erfahrung des Autors hat. Sie wird nicht in die kulturelle Gemeinschaft inkorporiert, wird nicht das Erbe eines Volkes; sie bleibt für alle Zeiten an den Roman gebunden, den wir lesen und goutieren sollen, den wir uns aber nicht zu eigen und zu unserem Leben machen sollen, um ihn in gleichsam zugerichteter Form an die nachfolgende Generation weiterzureichen. Die Intrige eines Thackeray oder eines Hardy ist nicht zu vergleichen mit der Intrige von «Rotkäppchen» oder «Aschenputtel», die jedes Jahr erneut als Weihnachtsspiel zur Aufführung kommen. Man kann einen geschichtlichen Abriß zu «Die Schöne und das Tier» verfassen, aber nicht zu den «Pickwickern».

 

Es gibt Aspekte des modernen Romans, die durchaus von ethnologischem Interesse sind, die Behandlung der Charaktere etwa, der moralische Unterton, Fragen formeller und stilistischer Natur, denen wir Rechnung tragen, wenn wir verschiedene Werke unter der Bezeichnung «georgianisch» oder «früh-» oder «hochviktorianisch» zusammenfassen. Sie sind von ethnologischem Interesse, weil sie Ausdruck dessen sind, was einige den «Geist der Zeiten» nennen, andere den Mittelwert aller vorherrschenden Strömungen einer Periode.

 

Es kann geschehen, daß die Kenntnis eines aktuellen Motivs, das zu einer gesellschaftlichen Veränderung führt, den Feldforscher verwirrt und von der eigentlichen Fährte ablenkt.

 

Auf der zu den Fidschis gehörenden Insel Lakemba lebt das Adelsgeschlecht derer von Niumataiwalu. Es teilt sich in vier Stämme, die ich A, B, C, und D nennen möchte. Wir sind sofort geneigt, diese Aufteilung mit der Zahl vier in Verbindung zu bringen, die auf den Fidschi-Inseln heilig ist. Doch nach einigem Forschen stellt sich heraus, daß es zu einer früheren Zeit nur drei Stämme gab, A und C gehörten ursprünglich zusammen. Man hatte damals gefunden, daß die Angehörigen des späteren Stammes A wenig Eifer an den Tag legten, wenn es darum ging, Feste auszurichten. Sie überließen die ganze Arbeit den Vettern des späteren Stammes C. Nur diesen war es zu verdanken, daß das Ansehen des Stammes nicht litt. Man beschloß daher, die Faulenzer aus dem Stamm auszuschließen. Sollten sie selbst ihr Auskommen finden. Auf diese Weise wären sie gezwungen, ein würdiges Fest auf die Beine zu stellen, wenn sie sich nicht zum Gespött machen wollten. Wir schließen also, daß die Vierteilung nur ein Zufallsprodukt war.

 

Zum Glück haben wir unsere Nachforschungen hier aber nicht abgebrochen, sondern uns auch auf den übrigen Inseln umgesehen, wo die Vierteilung so allgemein ist, daß sofort ins Auge springt, daß es sich um eine gesellschaftliche Institution handelt.

Solche Fälle finden sich oft. Wenn man eine Gemeinschaft bis ins Detail untersucht hat, sollte man es sich daher zur Regel machen, benachbarte Gemeinschaften aufzusuchen und Listen anzufertigen: Stämme, Titel, Funktionen usw., um so zu ermitteln, welche Einrichtungen akzidentiell sind und welche wesentlich.

Motive, die sich lokalen, temporären Umständen verdanken, werden auch nur lokale, temporäre Veränderungen bewirken. Diese mögen eine Zeit lang das Denken der Menschen beherrschen, doch hat sich der einstige Anlaß erledigt, erledigt sich auch die Veränderung; die wesentlichen Einrichtungen hingegen überdauern. Politische Gründe mögen für geraume Zeit eine traditionelle Gepflogenheit unterdrücken und für eine Dreiteilung des Stammes sorgen, doch die Gepflogenheit wird bei der nächstbesten Gelegenheit wieder ihre alten Rechte einfordern, wenn die politische Lage eine andere ist. Ein Häuptling von C mag Nachfolger des Häuptlings von B werden, weil der Kandidat von B unbeliebt ist; aber bei der nächsten Wahl ist dieses Motiv nicht mehr gegeben und das Häuptlingsamt geht wieder an Stamm B über. Der kollektive Beschluß, der eine Gepflogenheit dauerhaft verändern will – Inzucht zu unterbinden oder dergleichen –, muß das Ergebnis einer langen und unermüdlichen kollektiven Anstrengung sein. Man zeige uns diese kollektive Anstrengung, zeige uns die zuvor herrschende Gepflogenheit und wie sie unausweichlich und logisch zu jenem Beschluß führt, und wir stellen fest, daß es des vermeintlichen Beschlusses gar nicht bedarf. Er verhält sich zu der Neuerung etwa wie der Pfiff des Stationsvorstehers zu der Abfahrt des Zuges.

 

Nichts entsteht aus nichts; ein Mensch kann kein ganzes System aus der Leere schöpfen. Niemand leugnet, daß die australischen Schwarzen über ihre Zeremonien, Sitten und Gebräuche nachdenken, daß sie räsonieren und das Für und Wider abwägen. Wir tun dies ebenfalls und können daher ohne jede Beweisnot schließen, daß die Wilden es genauso halten. Nicht glaubhaft hingegen ist, daß sie eine ganze soziale Organisation aus der eigenen Anschauung heraus entwickeln. Man bedenke, wie schwierig es nur ist, einem neuen Ding einen Namen zu geben, wenn nichts in seiner Umgebung einen solchen nahelegt. Wie quälend, sich einen Namen ausdenken zu müssen; wir zermartern uns das Hirn und kommen zu keinem Ergebnis, dabei müßte man nur blind mit dem Finger in ein Buch stechen, oder man könnte – wie beim Scrabble – Buchstaben aus einem Sack ziehen. [1] In der Praxis sind wir durch und durch Deterministen: Wir brauchen etwas, das unser Handeln als folgerichtig erscheinen läßt, und es muß von sozialer Relevanz sein, wenn es von der Gesellschaft akzeptiert werden soll. Wer würde es wagen, den Namen einer neuen Insel per Lotterie zu ermitteln, und welcher Geograph würde diesen Namen anerkennen?

Wenn wir bereits bei den einfachsten Erfindungen Sorge tragen, daß sie an Vertrautes anknüpfen, wie können wir dann von Völkern, die tief in den ersten Stadien der Menschheitsgeschichte steckengeblieben sind, erwarten, daß sie eine neue soziale Ordnung erfinden, die in keiner Beziehung zu einer älteren Ordnung steht? Und wenn sie auf einer älteren Ordnung beruht, dann müssen wir wissen, wie diese Ordnung aussah, um die neue verstehen zu können.

 

Wir sind nicht klüger als zuvor, wenn wir erfahren, daß die australischen Aborigines irgendwann in grauer Vorzeit nachgedacht haben, denn alle Menschen denken unablässig nach, sie denken nur nicht zu allen Zeiten über dieselben Dinge nach. Von Interesse sind aber allein diese Dinge – die Dinge in ihrer Verschiedenheit –, nicht das Nachdenken als solches, das sich zu allen Zeiten mehr oder weniger gleich bleibt. Was wir von den Australienforschern wissen wollen, ist also, wie die Gesellschaft beschaffen war und inwiefern sie sich von der früheren unterschied.

 

Die Tatsache, daß jede Gesellschaft «das Gepräge des Zweckmäßigen» [2] an sich trägt, beweist nicht, daß sie gleichsam über Nacht ersonnen wurde, auch nicht innerhalb eines Jahrhunderts. Die britische Verfassung trägt gewiß das «Gepräge des Zweckmäßigen» an sich; aus diesem Grund wurde sie auch von anderen Nationen kopiert. Doch jeder stolze Brite wird zurecht darauf hinweisen, daß diese Verfassung gewachsen ist, nicht gemacht wurde. Gemacht wird die Verfassung im Grunde jeden Tag, sie wird fortwährend geformt, nach Vernunftkriterien und auf Zwecke hin; aber ein Gestaltungsfaktor, der sich durch die gesamte Geschichte zieht, kann nicht herangezogen werden, um eine einzelne geschichtliche Episode zu erklären.

 

Die duale Organisation der Gesellschaft verhindert mitnichten den Inzest. Sie gestattet einem Mann, seine Mutter zu heiraten, oder der Tochter ihren Vater, je nachdem ob die Abstammungsregel patrilineal oder matrilinieal ist. Die logische Schlußfolgerung ist, daß die duale Organisation nie dazu gedacht war, Inzest zu verhindern. Aber der psychologische Anthropologe hält es in diesem Punkt mit Ptolemäus, nicht mit Kopernikus. Er läßt nicht ab von seiner These, sondern erfindet einfach eine zweite These, um die erste zu stützen. Er unterstellt, daß der Wilde nicht so denkt wie wir; daß er grundsätzlich Umwege geht, wenn er Probleme lösen will, und so sein Ziel oft genug verfehlt. Die rationalistische, zweckorientierte Psychologie muß also Zuflucht zu einer, wie ich es nennen möchte, «funktionalen Psychologie» nehmen, die das Verhalten, die Sitten und Gebräuche der Wilden mit einer spezifischen Funktionsweise des «wilden» Gehirns erklärt, die sich auszeichnet durch Assoziationen, Emotionen, Irrationales, Ängste usw.

 

Die beiden Methoden sind unvereinbar miteinander: Die erste ist lediglich die alte englische Psychologie, angewandt auf die Wilden, ist also aktualistisch; die zweite dagegen muß dem Wilden ein andersgeartetes Denken unterstellen, das für die fremde Vorstellungswelt verantwortlich sei. Das hindert beide indes nicht, sich zu einer starken Allianz zusammenzutun. Die erste behauptet: Exogamie und «Heiratsklassen» wurden erfunden, um Inzest zu verhindern. Wenn man einwendet, daß das auch auf wesentlich einfacherem Weg möglich gewesen wäre, indem man etwa verkündet: «Du sollst nicht heiraten deine Schwester noch deine Mutter, noch deine Tochter», dann springt die zweite Methode in die Bresche und sagt: «Ja, ja, aber die Wilden haben schließlich einen unterentwickelten Verstand und können sich nun einmal nicht einprägen, wer Mutter, Schwester, Tochter ist.» Nachdem einerseits anerkannt wird, daß der Wilde keine Maschine sei, sondern ein intelligentes Wesen, das über eine «praktische Erfindungsgabe» verfüge und dazu in der Lage sei, «logisch und präzise zu schlußfolgern»,[3] wird doch sogleich angefügt, daß der «geistig träge Wilde» sich nur mühsam über «individuelle familiäre Verhältnisse Rechenschaft ablegen» könne, [4] daß er zwar die Begriffe «Mutter», «Schwester» und «Tochter» habe, sich in der Praxis aber nicht merken könne, wer wer ist, daß er deshalb ein kompliziertes System erfinden mußte, das aber auch nicht funktionierte, und das immer weiter ausgebaut wurde, bis es so aufgebläht war, daß es schließlich aufgegeben wurde.

 

Ich will nicht länger bei diesen Widersprüchen verweilen. Ich möchte nur anmerken, daß ich Gelegenheit hatte, lange unter Wilden zu leben, und nirgendwo habe ich beobachtet, daß sie – wie jene Chinesen bei Charles Lamb – ihre Hütten in Brand setzen, wenn sie Schweinebraten essen wollen.

 

Lassen wir die Anwendung der funktionalen Psychologie auf die Völkerkunde vorläufig beiseite. Wir werden noch zeigen, daß die Denkweise eines Volkes nicht aus seinen Bräuchen, die es praktiziert, abgeleitet werden kann, noch die Bräuche aus der Denkweise.

 

Wir werden der Einfachheit halber all jene Theorien, welche die Gebräuche der Menschen auf Instinkte – reale oder hypothetische – zurückführen, als biologische Psychologie bezeichnen. Die Methode ähnelt jener, der anderen beiden Schulen: Am Anfang haben wir eine leere Tafel, und auf diese Tafel schreibt der Instinkt nach und nach verschiedene Verhaltensweisen. Der Einwand ist derselbe: Es kann sich nichts aus nichts entwickeln; und es bleibt unbegreiflich, wie sich an verschiedenen Orten auf der Welt ganz unterschiedliche komplexe Gesellschaftsformen herausbilden sollen aufgrund eines bloßen Instinkts. Männliche Eifersucht ist zweifellos ein realer Instinkt, ein realer Faktor im Leben der Menschen; aber wie diese Eifersucht zunächst unterdrückt werden konnte, dann (nach Meinung von Andrew Lang) unversehens die jungen Männer einer Gemeinschaft dazu trieb, die Stammesgrenzen zu durchbrechen, und sich schließlich in einer wohlgeordneten Exogamie wieder beruhigte, bleibt unerklärt. Es gilt im Leben der Menschen wie in der Physik eine Art Trägheitsgesetz: Ein einmal in Gang gesetzter Körper ändert seinen Bewegungszustand nicht; und wenn er es doch tut, müssen wir eine Ursache anführen; jede Veränderung der Richtung oder der Geschwindigkeit verlangt nach einer Erklärung.

 

Wenn die Völkerkunde eine Wissenschaft werden will, muß gelten, daß ein und dieselbe Ursache nicht gegensätzliche Wirkungen hervorrufen kann, und daß jede Wirkung durch eine Hypothese vollständig erklärt werden muß, oder die Hypothese muß verworfen werfen. Wenn ein Instinkt verantwortlich sein soll für einen Brauch, dann muß dieser Brauch überall und zu jeder Zeit in Erscheinung treten, wo wir den Instinkt antreffen, oder wir müssen die Kräfte benennen können, die dem Instinkt zuwiderlaufen. Wenn ein Brauch ausschließlich auf einem Instinkt beruhen soll, dann müßten wir jedes Detail dieses Brauchs auf diesen Instinkt zurückführen können. Was aber würden wir von einem Technologen halten, der uns all die unterschiedlichen Verfahrensweisen des Fischens, Jagens und Ackerbaus allein mit dem Hungerinstinkt erklären wollte? Und dennoch würde er nichts anderes tun als der Soziologe, der alle Spielarten der Exogamie von sexueller Eifersucht ableitet oder die unzähligen Formen des Totemismus von Persönlichkeitsstörungen oder der Angst vor der beseelten Natur.

Selbst wenn wir zugeben, daß unseren Bräuchen und sozialen Gepflogenheiten Instinkte zugrunde liegen, so wäre dadurch nichts gewonnen. Denn die menschlichen Instinkte bilden kein wohlgeordnetes Ganzes, sondern sind vielmehr ein Gewimmel widerstreitendender Regungen. Selbst wenn wir also beweisen könnten, daß ein bestimmter Brauch auf einen bestimmten Instinkt zurückgeht, müßten wir immer noch erklären, warum gerade dieser Instinkt zum Tragen kam und nicht von seinem Rivalen unterdrückt wurde. Und diese Erklärung kann nur in einer historischen Vorstufe zu suchen sein.

 

Um ein Beispiel zu nehmen: Im überwiegenden Teil der Welt ist es üblich, daß der Mann um die Frau wirbt. Die Tatsache scheint keiner näheren Erklärung zu bedürfen: Es ist ein Gesetz der Tierwelt, daß das Männchen balzt und das Weibchen sich nach einigem Zieren dem Männchen hingibt. Und doch ist es in Teilen der Solomoninseln nicht unüblich, daß die junge Frau um den jungen Mann wirbt. Auf den Torres-Strait-Inseln gilt es sogar als anstößig, wenn der Mann als Bewerber auftritt oder wenn er das Werben der Frau zu bereitwillig akzeptiert. Hier ist der Instinkt vollständig außer Kraft gesetzt, und nicht von einem anderen Instinkt, wie es scheint, sondern ganz offensichtlich von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Veränderungen, die zu untersuchen Aufgabe der historischen Forschung wäre. Der Instinkt als solcher ist ein höchst unsicherer Kantonist. Er vermag zum Beispiel nichts gegen die Etikette. Wie sehr eine englische Jungfer auch verliebt sein mag, Anstand und Sitte versagen ihr, einem jungen Mann ihre Liebe zu gestehen; sie kann allenfalls zaghafte Andeutungen machen, und wenn diese nicht bemerkt werden,

 

Sitzt sie wie die Geduld auf einer Gruft,

Dem Grame lächelnd.

 

Wenn sie jedoch eine Königin ist, verlangt es die Etikette, daß sie dem Bewerber zu verstehen gibt, daß es ihm freisteht, zu werben. Die Frauen der Südsee haben kein Bedürfnis nach unsterblicher Liebe; es genügt ihnen, eine gewisse Zuneigung zu empfinden, um ihre natürliche Schüchternheit abzulegen und sich dem Mann zu offenbaren. Denn der Brauch fördert das Gefühl der Zuneigung, während er in England stärkere Leidenschaften im Zaum hält.

 

Tatsächlich gibt es eine Gruppe von Instinkten, die alle übrigen dominiert – die sozialen Instinkte. Ihr Wirken ist ebenso unbegrenzt wie unbestimmt. Sie sind ihrem Wesen nach Opportunisten. Ihr Augenmerk ist ausschließlich auf die öffentliche Meinung gerichtet. Die Menschen quält in der Folge nichts so sehr wie die Frage, «was die Leute denken». Es ist klar, daß uns diese Instinkte keine große Hilfe sind, da sie die Bräuche nur zementieren und sie nicht schaffen oder formen.

 

Instinkte sind für unser Thema also ganz irrelevant: Wir können auf den Hunger beim Thema Fischen verzichten, auf die Liebe bei der Ehe,[5] auf die Rauflust bei der Kriegskunst, auf die religiösen Gefühle bei der Religion und auf den Menschen bei der Völkerkunde.

 

Tatsächlich muß uns der Mensch als solcher vorerst nicht beschäftigen, denn er ähnelt sich überall auf der Welt mehr oder weniger. Es gibt wohl einige angeborene, charakterliche Unterschiede unter den Völkern und ihr Einfluß auf Sitten und Gebräuche mag das Studium lohnen – wenn erst die Geschichte dieser Sitten und Gebräuche erforscht ist. Doch in unserem gegenwärtigen Zustand der Unwissenheit sind diese Unterschiede zu vernachlässigende Größen und müssen wie eine Invariante behandelt werden. Von einer gleichbleibenden Größe können wir nun aber unmöglich die sich fortwährend verändernde und tendenziell unendliche Vielfalt von Sitten und Gebräuchen und Vorstellungen ableiten, die in der Welt herrschen.

 

Der psychologische Anthropologe wird indes nicht zugeben, daß der Mensch als solcher sich überall auf der Welt mehr oder weniger gleicht. Sein Argument ist: Unterschiedliche Ideen und Vorstellungen müssen von unterschiedlichen geistigen Veranlagungen herrühren. Wenn diese These wirklich notwendig ist, müßten wir von Millionen unterschiedlicher geistiger Veranlagungen ausgehen, um die Millionen unterschiedlicher Gebräuche und Vorstellungen zu erklären.

 

Ich glaube, noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, zu behaupten, die geistige Veranlagung eines heutigen Franzosen unterscheide sich von derjenigen eines Franzosen von vor zweihundert Jahren. Und doch war Frankreich damals die älteste Tochter der Heiligen Römischen Kirche; heute sind die meisten Franzosen rationalistisch gesinnt. Es ist kein Paradox zu sagen: Sie sind rationalistisch gesinnt, weil sie einst römisch-katholisch waren; ihre Art zu denken, hat sich nicht geändert – präzis, einfach, logisch, konsistent, immer eher von Axiomen ausgehend als von der unmittelbaren Erfahrung. Es sind nur die Axiome, die sich geändert haben.

 

Ich glaube, es ist auch noch nie jemand auf die Idee gekommen, zu behaupten, daß die angeborenen geistigen Fähigkeiten von Wilden durch das Christentum verändert worden wären. Tatsächlich stellt es für viele Bewohner der Fidschi-Inseln kein Problem dar, zugleich Heide zu sein und Christ. Ich habe eine «Verteidigung des Heidentums» eines Fidschianers übersetzt.[6] Ein Kirchenhistoriker äußerte, die Schrift habe große Ähnlichkeit mit den frühen Gnostikern. Ein Freund hielt sie für eine Parodie auf heutige christliche Apologeten. Ein betagter Fidschianer hingegen glaubte, daß der Text in Wahrheit von mir stamme.

 

Genau aus dem Grund, weil Wilde in derselben Weise wie wir denken, denken sie etwas Anderes als wir; denn derselbe Denkprozeß auf unterschiedliche kulturelle Gegebenheiten angewendet, muß zu unterschiedlichen Resultaten führen. Es sei denn, wir wollen behaupten: 3 x 2 = 3 x 3, oder daß dieselbe Kraft, die auf unterschiedliche Massen wirkt, dieselbe Beschleunigung hervorrufen könne.

Die Gegebenheit, auf die der Wilde das Denken anwendet, ist die überkommene Tradition und soziale Organisation. Wir wollen nun aber partout glauben, daß wir, die Weißen, bei unserem Denken anders verfahren, daß wir das Wissen direkt von der objektiven Realität beziehen, daß wir eine Sache nur glauben, weil sie objektive Realität besitzt, und daß wir dies sehen, jeder individuell. Wir schließen daraus, daß unser Wissen rational ist, objektiv, selbstevident, und wir können gar nicht begreifen, wie der Wilde nur so blind sein kann gegenüber den Fakten und Wahrheiten, die uns doch förmlich in die Augen springen. Wir müssen annehmen, daß die Augen seiner Seele verschlossen sind, daß er in einer Welt der Träume und vagen Empfindungen lebt. Die Menschen aller Völker waren zu allen Zeiten gleichermaßen davon überzeugt, daß sie ihr Wissen direkt von der Realität beziehen. Der Wilde wird sich zu seiner Verteidigung auf seine Erfahrung berufen, und ihm werden seinerseits Zweifel an unserer geistigen Gesundheit kommen, wenn er auch zu höflich ist, diese Zweifel zu äußern. Wir geben vor, an Atome zu glauben, weil es sie wirklich gibt; ein Fidschianer gibt vor, an Geister zu glauben, weil er sie wirklich gesehen hat, und wenn er behauptet, sie mit seinen eigenen Augen gesehen zu haben, was haben wir dieser Erfahrung entgegenzusetzen, außer unseren Skeptizismus, dessen einzige Rechtfertigung darin besteht, daß Geister nicht in unser europäisches Weltbild passen, daß sie eine Hypothese sind, die wir nicht nötig haben.

 

Immer wieder wird behauptet, daß Wilde nicht an Geister glauben, weil sie sie sehen, sondern daß sie sie sehen, weil sie an sie glauben. Andersherum hört man nur selten, daß wir nicht an das Trägheitsgesetz glauben, weil es evident ist, sondern daß es evident ist, weil wir an es glauben; oder daß das Gesetz von Angebot und Nachfrage zum großen Teil von unserem Glauben daran abhängt, und nicht unser Glaube von dem Gesetz. Wer weiß, ob nicht irgendwann eine Menschenrasse aufkommen wird, die unser mechanistisches Weltbild hinter sich gelassen hat und zu einer neuartigen Psychologie vorgedrungen ist und dem Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts vorhält, daß er offensichtlich blind sei für ihre so naheliegende und so viel fruchtbarere Sichtweise auf Geist und Materie! Wer weiß, ob wir nicht unsere traditionellen szientifischen Vorstellungen über Bord werfen müßten, um zu einer tiefergehenden, Geist und Materie versöhnenden Gesamtschau zu gelangen, die ebenso simpel und verführerisch ist wie unsere jetzige Physik. Was wir bei der Erforschung der Sitten und Gebräuche der Wilden brauchen ist Bescheidenheit. Wir müssen den Absolutheitsanspruch unseres eigenen Denkens aufgeben und die Vorstellung unserer geistigen Überlegenheit, die wir nur deswegen behaupten können, weil uns noch keine höhere Menschenrasse begegnet ist, mit der wir uns vergleichen konnten.

 

Wenn einer unserer Wissenschaftler eine Hypothese formulieren will, macht er in seinem Hirn nicht jedesmal tabula rasa, um noch einmal ganz von vorn zu beginnen; im Gegenteil, seine Hypothese wird sich zum überwiegenden Teil im Einklang befinden mit dem Wissensstand seiner Zeit.[7] Und auch der Südseebewohner probiert nicht wahllos sämtliche Gedankenverbindungen aus, in dem Versuch ein neues Phänomen zu erklären, sondern leitet seine Theorie von der Geisterlehre ab, mit der er aufgewachsen ist und die bislang noch jede Abweichung von der Norm überzeugend erklärt hat.

 

Es ist ein Beleg für die grundlegende Widersprüchlichkeit unserer Sichtweise, daß wir uns einerseits genötigt sehen, den Wilden ein andersgeartetes Denken zu unterstellen, das für ihre Irrlehren verantwortlich sei, und andererseits unseren Philosophen und Wissenschaftlern unbedingten Glauben schenken, die unsere physikalische Welt auf eine Handvoll allgemein akzeptierter Theorien reduzieren, für die es in der Sinnenwelt keine Entsprechung gibt, die experimentell annähernd verifiziert sind und doch bei nächster Gelegenheit von neuen Theorien abgelöst werden können. Wenn man sich vor Augen hält, daß das mechanistische Weltbild (und ich möchte «mechanistisch» im weitesten Sinne verstanden wissen und auch unpersönliche Phänomene wie die politische Ökonomie darin einschließen) – wenn wir uns vor Augen halten, daß dieses Weltbild nur eine Phase in einer langen Wissenschaftstradition ist – die sich ändert wie andere Traditionen auch –, dann verschwindet schlagartig der große Unterschied zwischen dem Wilden und dem zivilisierten Menschen. Der Südseebewohner postuliert die Existenz einer körperlosen Seele, und seine Geisterlehre, die daraus folgt, steht in logischem Einklang mit dieser Prämisse. Wir können ihn nicht logisch widerlegen, ebensowenig wie die Atomtheorie; wir können nur festhalten, daß es zahllose präzisere und ergiebigere Hypothesen gibt als eine Theorie von Geistern. Wenn unsere wissenschaftlichen Theorien andererseits vielleicht auch nicht ein Phänomen wie das Glück erklären können, wie dies spiritualistische Theorien tun, so können sie doch eine Vielzahl anderer Dinge besser erklären und haben es uns am Ende ermöglicht, die ganze Welt zu beherrschen.

 

Wir müssen uns in der Völkerkunde dem Einfluß philosophischer Systeme entziehen. Sie geben vor, mit Traditionen und überkommenen Vorstellen aller Art zu brechen und ihr Gedankengebäude auf ein, zwei ewigen Wahrheiten zu gründen. Tatsächlich verwenden sie aber altes Baumaterial und folgen alten Plänen, allerdings vereinfachen sie alles. Das machen wir uns aber nicht klar und glauben uns fortan im Besitz ewiger, unumstößlicher Wahrheiten. Aus dem Umstand, daß der Wilde diese Wahrheiten nicht sieht, schließen wir, daß sein Verstand mangelhaft oder doch wenigstens andersgeartet sei, und wir empfinden es als unsere Pflicht, diesem Mangel abzuhelfen, indem wir ihm sagen, daß er im Unrecht ist und wir im Recht sind und er uns glauben muß, will er nicht unseren Spott, unsere Rechtsprechung oder das Anathema der Kirche zu spüren bekommen.

 

Der Verstand des Wilden ist alles andere als mangelhaft. Der Wilde ist ein ganz normales soziales Wesen, dessen oberstes Interesse das Zusammenleben mit seinen Nachbarn ist. Er kennt die Ansichten seiner Nachbarn sehr genau, er versteht sie und sieht keinen Grund darin, sich von ihnen groß zu unterscheiden. Was seine Nachbarn sagen, ist unkompliziert, es paßt in seinen Alltag und zu seiner Sicht der Dinge; es ist unendlich viel bedeutender für ihn als die dunklen und rechthaberischen Behauptungen des weißen Mannes, der nicht nur ein völlig Fremder ist und von den alltäglichen Angelegenheiten der Einheimischen nichts versteht, sondern offensichtlich schlicht und einfach nicht ganz richtig im Kopf ist.

 

Weit davon entfernt also, auf die Stimme der Vernunft zu hören, die aus dem Mund des weißen Mannes zu ihm spricht, nimmt sich der Wilde die Freiheit – wenn er denn ein Denker ist –, gemäß der ihm evidenten Tatsachen seine eigenen Schlußfolgerungen zu ziehen, was seine Götter angeht, seine Medizin, seine Häuptlinge, seine Geburtenrate, und dies sogar im Stil eines europäischen Philosophen. [8]

 

Es ist nur gut, daß die Wilden nicht unsere anthropologischen Schriften lesen – um ihren Seelenfrieden wäre es unweigerlich geschehen. Armer Wilder, wenn er wüßte! Sitzt da im Schneidersitz in seiner Hütte, wackelt mit den Zehen, redet über die Yamwurzel-Ernte, lauscht der Beschreibung eines erbeuteten Riesenzackenbarsches, gönnt sich ein wenig Zerstreuung mit Erzählungen, die in unseren Breiten einst zurecht ins Lateinische übersetzt wurden, vernimmt mit Interesse, daß Mary wutentbrannt ihren Mann verlassen hat, nicht ohne vorher das Haus zu verwüsten, schenkt John sein Ohr, der in der Nacht einen Geist getroffen und vor ihm Reißaus genommen hat, er bespricht mit den Seinen die Vorbereitung des nächsten Festes und die Arbeit, die morgen auf sie wartet ... Wenn er wüßte, welche Mysterien sich um ihn ranken im fernen Europa! Würde er sich wiedererkennen in dem Bild des ewig staunenden, ewig furchtsamen Wesens, das eine noch nicht erkannte Welt durchstreift, an jeder Wegkehre von neuem ins große Unbekannte vorstößt, frisch und unverdorben wie vor Myriaden von Jahren, als er zuerst die Bühne der Welt betrat?

Stellen wir uns einen Wilden vor, interessiert und überdurchschnittlich intelligent, dem ein befreundeter Reisender ausführlich von den Sitten und Gebräuchen der Europäer berichtet hat und der nun seinen Landsleuten begreiflich machen möchte, wie der europäische Geist arbeitet. Er könnte wohl eine Schrift der folgenden Art verfassen:

 

Der zivilisierte Mensch betrachtet alles im Leben unter dem Aspekt des Bakteriologisch-Medizinischen. Was er tut, betreibt er stets mit dem größten Eifer, seine Geschäfte, seine Vergnügungen, sein Eheleben, doch auch hier ordnet er alles dem Bakteriologisch-Medizinischen unter, was ihm das Gefühl vermittelt, Herr der Lage zu sein, will heißen, Herr über eine ewig währende Gesundheit. So wie der Hund in einer Welt der Gerüche lebt, die wir nicht wahrnehmen können, so lebt der Weiße in einer bakteriologisch-medizinischen Welt, die uns ebenso verschlossen ist. [9]

 

Überall sieht er Mikroben, Keime, Bazillen, Krankheitserreger. Es ist ihm untersagt, unbekümmert auszuspucken, um keine «Tuberkulose» zu verbreiten, wie er es nennt. Unsere Sitte des Kava-Kauens ist ihm ein Greuel, und er will es uns gesetzlich verbieten, weil es gesundheitsschädlich sei. Da er seine Nahrung nicht mit Fingern anzufassen wagt, muß er große Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, er benutzt Gabel und Löffel und begibt sich so eines großen Teils des eigentlichen Genusses beim Essen, was wohl auch der Grund dafür ist, daß er viel weniger ißt als wir. Man kann sagen, daß die Angst vor Ansteckung ihn sein Leben lang verfolgt und alle seine Handlungen bestimmt. Wenn er nur hustet, so muß er sich abwenden. Da er in einem permanenten Zustand der Furcht lebt, kann er dem Einzelnen nicht gestatten, sich der Ansteckung auszusetzen, denn er würde damit die ganze Gemeinschaft gefährden. Daher das rigorose Diktat der unzähligen Verhaltensvorschriften, die wir bei ihnen beobachten, unter der eine freie Entwicklung der individuellen Persönlichkeit nicht möglich ist. Um nur ein Beispiel für die Strenge dieser Maßregelungen zu geben: Wenn einer seine Nahrung mit dem Messer zum Mund führt, wird er unweigerlich aus der höheren Gesellschaft ausgeschlossen. Wenn er andersherum alles daransetzt, Ansteckung zu vermeiden, so wächst seine Macht über die Bazillen und damit sein Ansehen und sein Rang. Das Messer an die Lippen zu führen, bedeutet nun, zu riskieren, sie mit etwaigen Verunreinigungen des Messers in Kontakt zu bringen. Dies ist selbstverständlich überaus inkonsequent, denn dieselbe Gefahr geht von der Gabel aus. Doch der Weiße denkt nicht logisch, so wie wir; der zivilisierte Mensch ist post-logisch. So kann man den Weißen dabei beobachten, wie er ein Laib Brot mit bloßen Händen vor der Brust schneidet, doch er wagt nicht, die einzelne Scheibe zu berühren, es sei denn, er spricht die Worte «Sie erlauben», eine Formel, die offensichtlich dazu dient, die Ansteckung zu neutralisieren.

 

Es versteht sich von selbst, daß die bakteriologisch-medizinische Theorie der Europäer die eigentliche psychologische Wurzel der Angelegenheit nicht erfaßt. Diese hochgradig nervösen Wesen sehen überall das Wirken einer geheimnisvollen Kraft, Ansteckung genannt, welche die gesamte Welt durchströmt wie Elektrizität. Die Bazillentheorie ist nur die Art der Europäer, dieses Gefühl zu rechtfertigen.

 

An dieser Stelle mag jemand aus der Zuhörerschaft vielleicht folgendes einwenden:

 

Was diese unsichtbare Kraft angeht – Ansteckung, oder wie immer sie es nennen, der Glaube an die Durchdringung zweier Gegenstände, die sich berührt haben, der Glaube an Fernwirkung, dem viele Weiße anhängen – ich denke, es ist möglich, Beispiele der täglichen Erfahrung anzuführen – Licht, Klang, Geruch –, die zu diesen Abstraktionen geführt haben können. Doch dies setzt bereits ein abstraktes Denken voraus und kann daher nicht am Anfang der Bakteriologie gestanden haben. Wir müssen einfachere Denkmuster bemühen, die keiner vorherigen Erklärung bedürfen. Auf unseren Fall bezogen vielleicht so: «Prämisse: Einen infizierten Menschen zu berühren, überträgt die Krankheit. Daraus folgt: Einen Gegenstand zu berühren, den der infizierte Mensch berührt hat, überträgt ebenfalls die Krankheit.»

 

Unsere wilden Anthropologen haben nichts anderes getan, als die Methode der psychologischen Schule, zum Teil im genauen Wortlaut, auf uns anzuwenden. Wir mögen ihren Scharfsinn bewundern, werden aber nicht ihre Schlußfolgerungen teilen. Wenn das Ergebnis unbefriedigend ist, dann ist es wohl auch die Methode und wohl auch, wenn sie auf den Wilden angewendet wird.

 

Tatsächlich interpretieren die Wilden unsere Sitten und Gebräuche auf diese Weise, und ihre Deutungen fallen durchweg nicht schmeichelhaft aus. Melaia, eine alte, erfahrene Hebamme stellte mir gegenüber einmal fest, daß weiße Frauen ihre Kinder nicht liebten, denn sie legten sie in eigene Betten, damit sie, die Frauen, bei ihren Männern liegen können. Fidschianerinnen hingegen ließen die Neugeborenen nie von ihrer Seite, nähmen sie mit zu sich auf die Liege, und die Männer würden in einem anderen Haus schlafen. Ich versuchte ihr zu erklären, daß unsere Sitte der Sorge um das Neugeborene geschuldet ist, um zu vermeiden, daß die Mutter das Kind im Schlaf erdrückt, und ich erwähnte auch die Geschichte von König Salomon; aber da fidschianische Mütter sich offensichtlich nicht im Schlaf herumwälzen, verfing mein Argument nicht. Nun, Melaia hatte völlig recht mit ihrem Einwand – soweit es fidschianische Mütter betraf. Eine fidschianische Mutter, die ihr Kind in der Nacht fortbringt, würde einen Mangel an mütterlicher Liebe bekunden, denn eine liebende Mutter will ihr neugeborenes Kind stets bei sich haben; eine fidschianische Mutter, die in den ersten achtzehn Monaten nach der Kindsgeburt mit ihrem Mann schläft, würde für wollüstig gelten in den Augen der gestrengen öffentlichen Meinung. Aber Melaia hatte unrecht, wenn sie ihre fidschianische Gepflogenheit auf die Psychologie der Europäer übertrug. Eine europäische Mutter hat ihr Kind ebenfalls gern neben sich liegen, aber mit unseren weicheren Betten und unserem unruhigeren Schlaf ist dies nicht ungefährlich, deswegen drängt liebevolle Voraussicht hier den Instinkt zurück.

 

Ein kluger junger Fidschianer äußerte sich mir gegenüber einmal verwundert darüber, welch eine erschreckende Anzahl von Tabus die Weißen zu beachten hätten. Ich wies ihn darauf hin, daß wir erzogen werden, sie zu beachten, ja geradezu gedrillt, und dies von Kind auf, so daß wir mit zunehmendem Alter sogar Vergnügen an ihnen fanden. «Jetzt verstehe ich», entgegnete er, «und ich habe mich immer gefragt, warum europäische Kinder so harsch behandelt werden. Jetzt sehe ich, daß dies einen Grund hat.»

 

Auch er hatte auf uns die psychologische Methode angewendet. Und weil die Wilden dies tun, halten sie uns in der Regel für niederträchtig oder dumm. Oder beides.

Bräuche und Gepflogenheiten sagen nichts über die Denkweise der Menschen aus. Wir sehen in unserer Kirche die versammelte Gemeinde, die in großer Eintracht ein- und dieselben Handlungen vollführt, und wir wissen doch sehr genau, daß sich diese Gemeinde aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Temperamenten und unterschiedlichen Meinungen zusammensetzt; selbst was diese Menschen in diesem Moment denken, kann nicht abgeleitet werden von den Gebeten, die gesprochen, und den Chorälen, die gesungen werden. Die Predigt, wenn sie interessant ist und die Aufmerksamkeit der Menschen fesselt, ist der einzige Bestandteil des Gottesdienstes, von dem wir annähernd etwas erfahren über die Gefühle und Gedanken der Menschen, eben weil die Predigt selbst nicht «brauchtümlich» ist.

 

Es ist wie bei den Wilden. Weil sie ein magisch-religiöses Zeremoniell pflegen, haben wir kein Recht, ihnen zu unterstellen, daß sie alles in ihrem Leben unter dem Aspekt des Magisch-Religiösen betrachten.

 

Wenn es ein Ereignis gibt, das dem Menschen ein Gefühl für das Magisch-Religiöse eingeben sollte, dann ist es der Tod. Ich war einmal Zeuge vom Sterben eines alten Eingeborenen. Wir sahen uns dort nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit seinen gefürchteten Handlangern konfrontiert, den drei Kita-Geistern, welche die einst so stattliche Erscheinung des Mannes in ein elendes Häuflein aus Haut und Knochen verwandelt hatten. Jetzt lag er schwer atmend dort, an der Schwelle zum Jenseits, ohne sie doch passieren zu können. Die Situation hätte eigentlich die Ehrfurcht und Andacht der Menschen nähren sollen, sie nährte aber nur ihre Ungeduld. Wie lange wollte er denn noch sterben? Bereits am Morgen schien es, als würden sich seine Augen für immer schließen, doch dann kam er wieder zu sich, und nun warteten sie alle und wollten die Beerdigung hinter sich bringen. Sie baten Rakoto, einige Blätter über ihm aufzuhängen, um die Kita-Geister zu vertreiben, damit der alte Mann sterben könne, und die ganze Zeit saßen sie da und rauchten. Die Blätter zeigten offensichtlich Wirkung; der Alte tat seinen letzten Atemzug; die Frauen stimmten das übliche Klagen an; der Tote wurde in eine Decke geschnürt, aufs Meer gefahren und über Bord geworfen.

 

Wenn der Tod bei den Menschen nicht für andächtige, tiefsinnige Gedanken sorgt, dann vielleicht die Seele des Toten, wenn sie auf die Reise zu ihrem neuen Bestimmungsort geht. Dr. W. H. R.  Rivers und ich hatten einmal die Gelegenheit, einem solchen Ablösevorgang beizuwohnen. Wir versammelten uns alle in einem Haus. Die Geister kamen, um die Seele des Toten mitzunehmen, aber sie waren nicht sehr gesprächig, sondern sagten nur, weswegen sie gekommen waren. Kopa war der einzige, der uns etwas über die andere Welt mitteilte. Und was verkündete Kopa? Irgendeine mystische Offenbarung? Nein, er sagte nur, daß er und Nui in der anderen Welt ein Boot gekauft hätten (vermutlich den Geist eines solchen) und zwar von einem verstorbenen Weißen. Aber Mamana, sein lebender Sohn, war nicht sehr interessiert an den postumen Transaktionen seines Vaters, und schickte ihn fort: «Ich bin ein Mensch, du ein Geist», sagte er, «ich mag dich nicht. Ich will nicht mit dir sprechen. Geh weg.» Und das war alles, was wir in jener Nacht über das Jenseits erfuhren.

 

Der Psychologe wird uns wohl zugeben, daß die religiöse Praxis heutzutage allgemein nicht mit großen Emotionen verbunden ist. Aber er wird einwenden, daß dies einstmals anders gewesen sein muß, als die Menschen zum ersten Mal die Frage nach dem Tod und der unsterblichen Seele stellten. Das allerdings setzt die Annahme voraus, daß die damit verbundenen Vorstellungen recht plötzlich unter den Menschen auftauchten. Dafür findet sich aber in unserer Zivilisation keinerlei Beleg. Wir entwickeln alte Gebräuche und erfinden neue, indem wir bereits vorhandene Vorstellungen logisch weiterentwickeln – ein Prozeß, der mit keiner anderen Emotion einhergehen muß als der puren Lust am Entdecken. Die Pockenimpfung hat eines der größten Übel aus der Welt geschafft, aber daraus folgt nicht, daß Edward Jenner bei seiner Forschung von einer Vision der leidenden Menschheit angetrieben wurde. Ein Entdecker auf dem Gebiet der Tropenmedizin mag die Wissenschaft als Segen preisen und ihr Loblied singen, aber deswegen muß er zur Medizin nicht aus Menschenliebe gefunden haben. Verspürt ein Anhänger der hochkirchlichen Bewegung zwangsläufig mystische Gefühle, wenn er über den Sinn und Zweck von Weihrauch nachdenkt oder die Bedeutung der apostolischen Sukzession? Und sind die Erkenntnisse, zu denen er gelangt, abhängig von der Stärke der Emotion, die der jeweilige Gegenstand in ihm auslöst?

 

Wir kennen die wahren Motive und Gedanken nicht, die zu neuen Entdeckungen geführt haben. Und wenn dies schon für unsere Zeitgenossen und Landsleute gilt, deren Errungenschaften uns bekannt sind und die uns Rechenschaft über ihr Tun gegeben haben, so gilt dies erst recht von Bräuchen und Gepflogenheiten, von denen wir nicht einmal sagen können, wo, wann und von wem sie erfunden wurden.

Es gibt keinen Grund, dies zu bedauern. Wir brauchen diese Information nicht. Die Kunstgeschichte ist lange Zeit ohne sie ausgekommen. Zugegeben, wann immer es ihr möglich ist, versorgt sie uns mit Biographien und entstehungsgeschichtlichen Daten. Aber wo diese Daten fehlen, haben wir es mit reiner Ethnologie zu tun. Besonders kommt dies in der Gotik zum Tragen. Wir hören in dieser Epoche sehr wenig von Architekten, dafür um so mehr von Stilelementen und Perioden, von ausländischen Einflüssen und lokalen Besonderheiten, von Problemen der Deckenkonstruktion und des Lichts, von gescheiterten und erfolgreichen Problemlösungsversuchen, von der Bedeutung des Rituals und der wirtschaftlichen Situation – all dies sind entscheidende Fragen, die beantwortet werden können, ohne daß wir wissen müssen, wer die Kathedrale gebaut hat und warum.

 

Das Studium von Verwandtschaft und sozialer Organisation macht heute schnelle Fortschritte, dank des Verzichts auf alle Psychologie, und es ist das Verdienst von W. H. R. Rivers, dieses Gebiet als erster für die exakten Wissenschaften anektiert zu haben.[10] Ich will mich nicht lange in fremdem Terrain aufhalten, das von anderen mit viel Geduld und Geschick erobert wurde, sondern nur darauf hinweisen, daß auch die Religion diesem Schicksal auf Dauer nicht entgehen wird.

 

Betrachten wir etwa die Kava-Zeremonie der Tonga-Inseln. Während der Zeremonie wird den Häuptlingen (’eiki ) von gewöhnlichen Leuten Essen dargebracht. Die Häuptlinge rühren das Essen aber nicht an; es wird – von den Enkelkindern und Kindern der jeweiligen Schwestern – wieder entfernt. Der Psychologe wird sagen, daß die Häuptlinge es für unter ihrer Würde erachten, das Essen anzurühren. Aber wo wäre ein Beweis für diese Denkweise zu finden? Wenn wir historisch vorgehen, ist die Erklärung denkbar simpel: Wie wissen aus sicheren Quellen, daß die Häuptlinge Geister repräsentieren. Um den Geistern zu opfern, bringen die Menschen Essen dar, das von den Geistern entfernt und gegessen wird. Die Häuptlinge sind Geister. Also wird das Essen, das ihnen dargebracht wurde, entfernt und gegessen. Quod erat demonstrandum. Es steht jedem frei, diese Erklärung abzulehnen – nur nicht aus psychologischen Gründen, denn sie steht in keinerlei Widerspruch zur Psychologie.

Es wird mit dieser Erklärung nicht der Versuch unternommen, die innersten Gedanken des schwarzen Mannes zu ergründen, statt dessen wird, so meine ich, ein Punkt geklärt, von dem aus sich weiter operieren läßt.

 

Man könnte die Völkerkunde vielleicht mit einem Lichtspielfilm vergleichen; die Psychologie mit dem Filmvorführer und seinem Projektor. Wenn ein Kind wissen möchte, wie ein Film entsteht, erläutern wir ihm die Funktionsweise der Kamera, mit welcher der Film aufgenommen wird, und die des Projektors, mit der er auf die Leinwand geworfen wird, sowie das Gesetz, wonach eine bestimmte Anzahl von Einzelbildern pro Sekunden als Bewegung empfunden wird. Doch all diese mechanischen Erklärungen gelten unabhängig von Ort und Zeit für jeden Film. Die Maschinerie mag nach und nach perfektioniert werden, und wir stellen fest, daß heutige Lichtspielfilme von besserer Qualität als noch vor einiger Zeit sind. Doch wenn unser neugieriges Kind wissen möchte, warum der Held in einem bestimmten Film mit einem Flugzeug davonflog, dann werden wir uns nicht um das technische Verfahren kümmern, sondern ihm erklären, daß er auf diese Weise die $100.000 gewinnen wollte, ohne die ihm der hartherzige Vater nie die Hand seiner reizenden Tochter gegeben hätte. Natürlich ermöglicht erst die Technik den Film, aber das ist hier nicht relevant.

 

Mögen Philosophen uns auseinanderlegen, wieso wir ein Phänomen so gänzlich verschieden beschreiben können – einmal als indeterminiert und universal, einmal als determiniert und partikular –, aber die Tatsache bleibt. Wir könnten etwa die Psychologie eines Parlaments beschreiben. Wir würden vielleicht die seelischen Vorgänge eines Abgeordneten nachzeichnen, wie er in seinem Innern auf die öffentlichen Diskussionen und die parteiinternen Absprachen reagiert. Wir können aber auch die Protokolle von Debatten lesen, in denen jeder Beitrag eines Redners als das logische Resultat seines Vorredners erscheint. Es ist wie in der Welt des Theaters. Man kann die Mentalität von Schauspielern generell untersuchen, doch erlaubt dies keine Aussage über sein Agieren auf der Bühne, das gänzlich von der Logik des Stücks abhängt.

 

Die Logik des einzelnen Individuums ist immer nur ein angenäherter Wert und immer unbefriedigend; sein Verhalten ist zu undeterminiert; es ist zuviel Zufall, zuviel Psychologie im Spiel. Zwei Schachspieler, die vor derselben Stellung sitzen, mögen unterschiedliche Züge tun, doch welchen sie auch tun, wir können ihn ableiten von der vorgegebenen Situation und dem gewünschten Resultat. Es ist vielleicht die Schwäche der Geschichtswissenschaft, daß sie immer erst hinterher schlauer ist. Wenn wir aber die Geschichte einzelner Sitten und Gebräuche im Visier haben, ergeben sich recht übersichtliche Perioden, und in einem gewissen Rahmen lassen sich recht verläßliche Vorhersagen treffen, denn die individuellen Abweichungen gleichen sich aus, was uns erlaubt, mit Mittelwerten zu arbeiten. Eine große Masse an widerstreitenden psychologischen Prozessen fällt unter den Tisch, und was bleibt, sind einige grundsätzliche Strömungen und Prinzipien. Und wir untersuchen nicht nur den Mittelwert eines gesellschaftlichen Brauchs, sondern diesen Brauch über einen immens großen Zeitraum hinweg, in dem sich wiederum alle Fluktuationen gegenseitig aufheben und nur die eine konstante Tendenz bleibt. Jede Frau mag sich verschieden kleiden, aber aus all dem Verschiedenen können wir eine Mode abstrahieren. Moden mögen stark variieren von Jahr zu Jahr, aber wenn wir eine längere Zeitperiode betrachten, erkennen wir eine klare Entwicklung: vom Derben, Prunkvollen, Eleganten zum Leichten, Aufreizenden, Jugendlichen. Unser modernes Leben ist bis ins kleinste Detail erfaßt, dokumentiert und archiviert; doch diese Daten sind uns so nah, daß wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Naturvölker studieren wir aus der Distanz; das läßt Feinheiten verschwimmen; und das Fehlen von Archiven zwingt uns, größere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Das ist gewiß der Grund, warum die Völkerkunde mit fremden Völkern begonnen hat, statt – wie es das Sprichwort gebietet – zunächst vor der eigenen Haustür zu kehren.[11]

 

Wenn das Ergebnis all der widerstreitenden Prozesse eine fortwährende Entwicklung in eine bestimmte Richtung ist und nie Stillstand, dann folgt daraus, daß es einen Faktor oder mehrere Faktoren geben muß, die konstant wirken; wenn sie nicht wirken, kommt es zur Stagnation. Was dies für Faktoren sind, mag die zukünftige Forschung zeigen; wir wollen uns unterdessen damit bescheiden, die «Richtungen» zu ermitteln.

 

Der Konflikt zwischen Psychologie und Geschichte in der Völkerkunde ist durchaus nicht nur ein theoretischer Konflikt, sondern hat die größten Konsequenzen in der Praxis. Die «psychologische» Sicht führt zu zwei unterschiedlichen Verhaltensweisen im Umgang mit Ureinwohnern. Man könnte von einer «Damn nigger»-Fraktion auf der einen und einer «Little brown brother»-Fraktion auf der anderen sprechen. Die erste führt die schrecklichen Bräuche von Wilden auf einen unterentwickelten Verstand zurück, und da in ihren Augen die meisten Wilden schreckliche Bräuche praktizieren, folgert sie, daß dunkelhäutige Völker insgesamt minderwertig seien und wie Hunde behandeln werden müssen. Menschen, die so denken, sind nicht zwangsläufig schlechte Menschen. Auch sie ziehen nur ihre logischen Schlußfolgerungen – allerdings ausgehend von einem engstirnigen, rigiden Moralverständnis. Diese Doktrin ist in unseren Breiten inzwischen verpönt; wir dürfen dennoch nicht ablassen, sie zu widerlegen. Die Doktrin der zweiten Fraktion ist heimtückischer, denn sie gibt sich menschenfreundlich. Auch für sie sind Sitten und Gebräuche ein Indikator für den Charakter eines Volks; aber die Anhänger dieser Fraktion haben eine joviale Ader, und so billigen sie dem Wilden zu, daß er nichts für seine abscheulichen Bräuche kann, da sein Intellekt und sein Urteilsvermögen noch unentwickelt sind, wie bei einem Kind. Der Wilde muß daher auch wie ein Kind behandelt werden; man muß ihm sagen, was er tun darf und was nicht, was er denken darf und was nicht. Und wie früher die Kinder bei uns, muß er zum Schulbesuch getrieben werden; zeigt er sich widerspenstig, wird er bestraft, wenn auch mit Nachsicht, denn er ist ja ein Kind. Wie so oft hat die Soziologie auch hier mit ihren Theorien erst die Fakten geschaffen; tatsächlich wurde der Wilde unter dieser Behandlung zum Kind, und zu keinem sehr folgsamen. Der Verlust an Entschlußkraft, Stolz, praktischer Vernunft und moralischem Verantwortungsbewußtsein, der damit einhergegangen ist, ist ein trauriges Kapitel für sich. Wollen wir hoffen, daß den überlebenden Naturvölkern durch ein besseres Verständnis ihrer Sitten und Gebräuche ein solches Schicksal erspart bleibt. 

 

‹A. M. H., Psychology and Ethnology, erschienen in: Folk-Lore, vol. 26, iss. 2, 1915, S. 115–132. Deutsch von H. A.›

 



[1] Noch immer können sich die Gelehrten nicht einigen, ob sie von «indo-germanisch» oder «indo-europäisch» sprechen sollen, und niemand ist restlos glücklich mit auch nur einem der beiden Begriffe.

[2] James George Frazer, «Totemism and Exogamy» (1910), Bd. IV, S. 106.

[3] Frazer, a. a. O., S. 105.

[4] A. a. O., S. 113.

[5] Die meisten Theorien scheinen davon auszugehen, daß die Ehe notwendig aus Sexualtrieb und Eifersucht resultiert. Wenn dem so ist, wie erklärt es sich dann, daß Menschen, die voreheliche Freiheiten kennen und eheliche Treue nicht einfordern, überhaupt heiraten. In vielen Teilen der Erde hat die Ehe entschieden wirtschaftlichen Charakter; voreheliche Aktivitäten sind «Romanzen», die Ehe selbst ist ein Geschäft. Die Liebe als reales und vorgebliches Motiv spielt vermutlich nur bei der geringsten Anzahl von Völkern eine Rolle und verdankt sich der Unmöglichkeit, außerhalb der Ehe der romantischen Liebe zu frönen; sie ist Ausdruck nicht zuletzt eines fortgeschrittenen Individualismus, der die gegenseitige Kameradschaft zu einem wichtigen Aspekt der Ehe erklärt.

[6] «A Native Fijian on the Decline of his Race. Translated, with an Introduction and Notes, by A. M. Hocart», The Hibbert Journal, vol. XI, Oct. 1912 – July 1913,  S. 85 – 98.

[7] Henri Poincaré, «La Science et l’Hypothèse» (1902), S. 170.

[8] The Hibbert Journal, a. a. O.

[9] Motive entnehme ich den Notes and Queries on Anthropology der British Association for the Advancement of Science (4. Ausgabe), London: Royal Anthropological Institute 1912, S. 252.

[10] Wir wollen indes nicht Joseph Kohler vergessen, dessen Monographie «Zur Urgeschichte der Ehe» (1897) allen Liebhabern mathematischer Präzision ans Herz gelegt sei.

[11] Poincaré, a. a. O., S. 211.