A. M. Hocart   Die Seele

 

Wenn die Korjaken einen Wal erlegt haben, opfern sie etwas von seinem Fleisch vor einem Bildnis, das den Wal darstellen soll. Ganz offensichtlich geht es in dem Ritual nicht um den leibhaftigen Wal, sondern um etwas, das in diesem Leib ist, das auf ein Bildnis übertragen werden kann, das ohne den Leib ins Meer zurückkehrt, um dort, wie es scheint, vom Körper eines anderen Wals Besitz zu ergreifen, um diesen dazu zu bewegen, sich der Küste zu nähern, auf daß die Korjaken ihn erlegen und schlachten können, womit sich der Kreislauf schließt und von neuem beginnen kann. Das Totem ist nicht der Wal, sondern ein immaterielles Etwas in einem Wal, das die Vernichtung des Körpers überlebt und einen neuen Körper annehmen kann. Ob die Korjaken an dieses immaterielle Etwas denken und einen Namen dafür haben, ist uns nicht bekannt. Wenn nicht, dann üben sie nur noch einen tradierten Brauch aus, ein Ritual, dem die zugrundeliegende Theorie abhanden gekommen ist.

 

Jeder fidschianische Clan hat sein eigenes Tier. Die Fidschianer sind sich vollauf im klaren darüber, welche Funktion das Tier erfüllt: Es ist das Medium des Geistes, des Gottes. Das Totem ist also nicht der Körper eines Tiers oder einer Pflanze oder ein anderes materielles Objekt, sondern etwas, das in seinem Innern wohnt – sein Leben oder seine Seele. Dasselbe gilt für einen Gott. Anthropologen haben diese Tiere als Totems bezeichnet, doch wir können sie genausogut Götter nennen – es sei denn, wir würden das Medium als das Totem und den innenwohnenden Geist als den Gott bezeichnen. Wenn wir dies nicht tun, besteht kein Unterschied zwischen Totemismus und Theismus, außer bei den wenigen Völkern, die auf jede Vermittlungsinstanz, jedwedes Medium, verzichten und sich mit ihren Kulthandlungen direkt an einen gänzlich abstrakten Gott wenden.

 

Gerätschaften können Totems sein. Ein Kanu der afrikanischen Jukun kann ebenso körperlicher Träger einer Seele sein wie ein Idol, wenn auch dahingestellt bleibt, was die Seele sei. Auf der Insel Eddystone wird ebenfalls ein Kanu wie ein Mensch behandelt, und es besteht kein Zweifel, daß es der Sitz der Seele eines oder mehrerer Verstorbener ist.

 

Bei den Korjaken ist die Leiter, über welche die Menschen ihre Häuser betreten, einer der Wächter der Familie. An ihrem oberen Ende befindet sich ein geschnitzter Kopf. Er wird bei seiner offiziellen Einweihung mit Fett gesalbt, «auf daß er keine bösen Geister ins Haus lasse».[1] Er unterscheidet sich in nichts von einem Gott oder einem Idol. Er wird nur nicht Gott genannt, sondern Wächter, denn dies ist der Name für die Totems.

 

Wo immer wir die konkreten Gepflogenheiten der Völker betrachten, können wir nirgendwo einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Gott und einem Totem erkennen. Die Sonne ist ein Gott, aber für die Australier ist sie ein Totem. Schlangen, die im Ritual eine wichtige Rolle spielen, sind Totems für die Australier, für die Fidschianer sind sie kalou oder Götter. Ein Totem ist ein Vorfahr, aber das gleiche gilt für einen Gott. Das Wort alchera der australischen Aranda bedeutet nach Spencer und Gillen[2] Totem, nach Strehlow[3] Gott.

 

Es ist durchaus fraglich, ob die Einführung des Wortes «Totem» dem Studium der vergleichenden Religionswissenschaft einen großen Dienst erwiesen hat oder ob es nicht vielmehr dazu beigetragen hat, grundlegende Übereinstimmungen zu verunklaren. Das grundlegende Prinzip besteht in dem Glauben an die Existenz eines Wesens, das den meisten, wenn nicht allen Dingen, innewohnt, das jedoch losgelöst von den Dingen existieren kann – oder dies zumindest durch rituelle Handlungen kann – und das darüber hinaus von anderen Dingen Besitz ergreifen kann. Die Sonne hat etwas Sonnenhaftes, das ihr Wesen oder ihre Seele, aber nicht die Sonne selbst ist und das Besitz ergreifen kann von einem Menschen, einer Statue, einem Stein und einer Getreidegarbe. Er ist rein willkürlich, wenn die Sonnenseele in Griechenland und Indien Gott genannt wird und in Nordamerika und Australien Totem.

 

Ich möchte dennoch bei dem Begriff bleiben, zum einen aus Rücksicht auf die Gepflogenheit, zum anderen, weil der Begriff durchaus eine sinnvolle Funktion erfüllt, wenn er denn klar definiert wird. So hat es sich als praktikabel erwiesen, zwischen totemistischen Ritualen und kosmischen zu unterscheiden, immer unter dem Vorbehalt, daß die Grenzen zwischen beiden fließend sind. So ist es in der Tat sinnvoll, das Wesen, um das es dem Ritual geht, «Totem» zu nennen, wenn es sich um ein eher spezielles Ritual handelt, und «Gott», wenn das Ritual eher allgemeingültig ist. Die kosmischen Rituale sind auf die ganze Welt bezogen und nicht auf einzelne Gegenstände, so daß also Gott die Seele der ganzen Welt ist und nicht die eines einzelnen Objekts.

 

Wir sind so sehr gewohnt, die griechische Religion mit den Augen der griechischen Dichter zu sehen, daß wir uns Götter stets als die deutlich unterschiedenen Charaktere vorstellen, wie Homer sie gezeichnet hat. Athene ist eindeutig jemand anderes als Hera. Aber in der wahren Religion der Griechen, der Religion, die im Ritual zur Anwendung kam, ist diese klare Trennung durchaus nicht gegeben. In Indien ist dies besonders auffällig: In dem einen Mythos ist es Indra, der in sich die Gestalten aller anderen Götter einschließt, in einem anderen ist es Varuna. Pradschapati, der All-Vater, und Agni, der Feuergott, haben je ihre eigenen Legenden und eigenen Opferrituale, und doch heißt es, sie seien ein und derselbe Gott. Tatsächlich ist jeder Gott derselbe wie jeder andere Gott und alle Götter zusammen. Es gibt auch Gott-Paare: Der König der Götter Indra und der oberste Opferpriester-Gott Agni wurden zu Indragni – ein Misch-Gott, dem anders geopfert wurde als den beiden ursprünglichen Göttern. Dies ist geradezu bestürzend für Menschen, die mit den griechischen Dichtungen groß geworden sind, und sie können sich dies nur mit einer Entwicklung zum Pantheismus erklären. Wir haben aber die Beobachtung machen können, daß selbst Fidschianer zuweilen einen Gott mit einem anderen ineinssetzen, und die Jukun sind noch viel weniger in der Lage, ihre Götter auseinanderzuhalten. Das läßt nur den Schluß zu, daß die griechischen Dichter, die wir schwerlich «primitiv», also ursprünglich, nennen können, eine deutliche Unterscheidung wieder eingeführt haben, die mit der Verschmelzung der Rituale lange Zeit verschwunden war.

 

Der Grund für diese Tatsache ist meiner Meinung nach kein tiefschürfend metaphysischer, sondern ein praktischer. Für die große Masse der Menschen sind Götter etwas ganz anderes als für die Philosophen. Sie sind keine Ideen, mit denen man Gedankenspiele anstellt, sondern ganz konkrete Anschauungen, die einem praktischen Zweck dienen, die aus dem Ritual entstehen und ihrerseits auf das Ritual einwirken, so daß wir nicht zu sagen wüßten, was zuerst da war. Wenn Rituale miteinander verschmolzen, dann verschmolzen auch ihre Theorien miteinander. Wenn umgekehrt die Sonnenseele und die Erdseele eines Tages als ununterscheidbar betrachtet wurde, weil man – nur einmal angenommen – zu der theoretischen Auffassung gekommen war, daß das Leben der Sonne die Erde durchdringt, dann verschmolzen auch die Rituale miteinander.

 

Wir sollten daher das Wort Totem verwenden, um einen Entwicklungsstand zu kennzeichnen, den wir für den ursprünglicheren halten, um die Seele oder das Wesen eines Objekts vor der Verschmelzung zu bezeichnen. Die Leser werden bemerkt haben, daß der Entwicklungsgang des immateriellen Wals sehr der menschlichen Seele ähnelt, wie sie von der Reinkarnationslehre gedacht wird: Die Seele überlebt den Tod des Körper, oder wird dazu gebracht, ihn zu überleben; sie wird übertragen auf einen unbelebten Gegenstand, um schließlich in einen Embryo im Mutterleib überzugehen.

 

Auf den ersten Blick scheint zwischen einem Gott und einem Totem ein wesentlicher Unterschied zu bestehen – wir sind es jedenfalls nicht gewohnt, uns einen Gott vorzustellen, der auf Wiedergeburt angewiesen wäre. Doch die Götter Indiens werden wiedergeboren. Sakra zum Beispiel regiert tausend Jahre lang und wird dann wiedergeboren; und ein Mensch – ein König vielleicht – wird wiedergeboren als Sakra. Götter werden ständig wiedergeboren auf Erden. Auch diese Differenzierung entfällt. Es besteht also kein wesentlicher Unterschied zwischen der Seele eines Menschen, einem Totem und einem Gott. Die Fidschianer differenzieren jedenfalls nicht. Die Seele eines Verstorbenen oder der Geist ist ein kalou, ein Gott ist ein kalou, das Tier, in das der Gott fährt, ist ein kalou, und das Kultobjekt, das im Ritual als Schrein dient, ist ein kalou. Ein Fidschianer nennt die menschlichen Seele nicht kalou, solange sie sich im Körper befindet, nur wenn sie diesen verläßt. Wenn er sagt, ein Häuptling sei ein kalou, dann bezieht er sich nicht auf des Häuptlings eigene Seele, sondern auf die eines Vorfahren oder eines Gottes, die in dem Häuptling wohnt. Wenn ein Mensch besessen ist, sagen sie, daß ein kalou von innen an ihm frißt, aber dieses kalou ist nicht seine eigenen Seele. Wenn eine Ratte ein kalou ist, dann ist ein Gott in die Ratte gefahren. Die Aranda verwenden verschiedene Bezeichnungen für diejenige Seele, die dem Körper angehört, und diejenige, die den Körper verlassen hat.

 

Dies zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung, denn durch die sogenannte Animismus-Lehre wurde hier einige Verwirrung gestiftet. Schon früh wurde von Forschern überall auf der Welt beobachtet, daß Menschen an Geister glaubten, die in Tieren, Pflanzen, Steinen, Flüssen und Bergen wohnten. Daraus wurde der Schluß gezogen, daß der primitive Mensch sich die gesamte Welt als von Geistern beseelt vorstellt. Die Lehre ist das Ergebnis ungenauer Beobachtung. Man hat den Geist in dem Stein für den Geist dieses Steins gehalten, während es tatsächlich der Geist eines Menschen war, der in dem Stein wohnt. Ein Fidschianer wird uns erzählen, daß am Fuße irgendeines Baumes ein Geist existiere, aber dieser Geist ist nicht die Seele des Baumes, sondern ein Gott oder der Geist eines Toten. Er wird uns sagen, daß in dem Stein ein Geist sei, aber dies ist nicht der Geist des Steins. Der Stein ist nur seine Wohnstatt.

 

Tatsächlich glauben die Fidschianer, daß ein Topf einen Doppelgänger hat, eine Seele gewissermaßen, die, wenn der Topf zerbricht, sich zu einer Art Friedhof der Töpfe begibt. Aber dieser Doppelgänger, diese Seele, fährt niemals in einen Menschen oder ein Ding, sie wird kein kalou.

 

Auf Eddystone ist der Geist, der sich in einem Amulett befindet, nicht der Geist des Amuletts, sondern der eines Toten, der oft namentlich bekannt ist – es ist der Name eines Mannes, dem dieses Amulett einst gehörte. Inder glauben, daß sich in bestimmten Bäumen Geister aufhalten, aber dies sind nicht die Geister der Bäume, sondern von bestimmten Verstorbenen. Viele Beispiele lassen sich in buddhistischen Geschichten finden: Eine Dryade ist niemals die Seele eines Baumes – der Buddhismus kennt keinen Seelenglauben –, sondern ein Mensch, der als Dryade wiedergeboren ist.

 

Ich habe vergeblich nach einem Volk Ausschau gehalten, das glaubt, daß Dinge empfindungsfähige Seelen besitzen. Ich habe andere Gelehrte befragt, und sie stimmen mir zu. Walter George Ivens teilt mir mit, daß die Bewohner der östlichen Solomon-Inseln von dem Geist in dem Stein sprechen, nicht von vom Geist des Steins.

 

Vor allem sehen diese Menschen nicht in jedem Baum oder jedem Stein einen Geist, sondern nur in bestimmten. Auf der Insel Lakemba sind mir nur drei Steine erinnerlich, in denen sich Geister befunden haben. Man wird eigens zu diesem Ort geführt, an dem sich ein Stein befindet, der von einem Geist bewohnt wird.

 

Ein Kultgegenstand ist oft der Aufenthaltsort für einen Geist, weil er eigens dazu gemacht wurde mittels ritueller Weihen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß alle Tiere, Bäume oder anderen Objekte, die als Behausungen für Geister dienen, erst durch rituelle Weihen zu solchen wurden, doch verständlicherweise sind diese Ursprünge in den meisten Fällen längst in Vergessenheit geraten. Und dies ist in nuce schon die ganze Geschichte: Ein Totem, ein Gott, ein Geist ist die Seele, die durch eine rituelle Handlung von seinem ursprünglichen Besitzer abgelöst wurde und übertragen wurde auf einen anderen Menschen oder auf ein Ding. Ein Geist mag sich womöglich auch einfach so, durch den Tod, vom Menschen lösen, aber ich möchte behaupten, daß dieser Ablösevorgang ursprünglich durch das Ritual bewirkt wurde, ja, daß dies der eigentliche Zweck des Rituals ist. Erst das Ritual hat Geister erschaffen. Dies wäre zu beweisen – begnügen wir uns vorerst mit der Feststellung, daß ein Geist losgelöst werden kann, durch den Tod oder durchs Ritual. Mit Sicherheit aber ist das Ritual zwingend erforderlich, wenn es darum geht, dem Geist eine Wohnstatt zuzuweisen.

 

Die Schule des sogenannten Präanimismus akzeptiert die Prämissen den Animismus, versuchte aber noch weiter zurückzugehen und einen Bewußtseinsstand zu rekonstruieren, der ihm vorangegangen sein soll. Ihre Anhänger gehen davon aus, daß vor der Herausbildung des Seelenglaubens eine Zeit geherrscht habe, in welcher der Mensch in der gesamten Natur eine unpersönliche Kraft wirken sah, für welche die Präanimisten den Begriff mana eingeführt haben, weil die Bewohner Polynesiens diesen Begriff angeblich in diesem Sinne verwenden. Das unpersönliche mana sollte allen Dingen gleichermaßen innewohnen, aber zu bestimmten Gelegenheiten doch hier und da stärker wirken als sonst. Ich will mich nicht aufhalten mit einer Theorie, die auf geradezu groteske Weise allen bekannten Tatsachen widerspricht, die vorgibt, eine historische Epoche darzustellen, sich aber weigert, historisch zu arbeiten.

 

Die präanimistische Schule beging den gleichen Fehler wie die animistische, in dem sie unterstellte, daß der primitive Mensch jene Kraft in allen Dingen wirken sah, womit sie ein Bild des Wilden zeichnet, das jeder Realität entbehrt. Es berührt allerdings einen richtigen Punkt, der aber auch allzu offensichtlich ist, nämlich daß die Vorstellung einer konkreten, persönlichen Seele sich entwickelt hat aus einer eher unpersönlichen Seelenvorstellung.

 

Jedes Ritual wäre völlig sinnlos, wenn stets alles mit jener Kraft aufgeladen wäre. Das Ritual basiert auf dem Glauben, daß einige Dinge über Kräfte verfügen und andere nicht und daß diese Kraft übertragbar ist von einem Ding auf ein anderes. Nicht jeder Stein verfügt über eine Kraft, sondern nur jene Steine, denen die Kraft durch das Ritual verliehen wurde. Und es verfügt auch nicht jeder Mensch über diese Kraft, sondern nur jene Menschen, auf die man diese Kraft in einem rituellen Weiheprozeß übertragen hat.

 

Wenn unsere Theorie stimmt, daß sich die kosmischen aus den totemistischen Riten entwickelt haben, dann folgt daraus, daß diese Kraft zu früheren Zeiten weit weniger abstrakt, also konkreter, «persönlicher» gedacht wurde als zu späteren Zeiten. Die totemistischen Riten versichern sich der Kräfte – genauer wohl: der Reproduktionskräfte – speziell von Bären oder speziell von Yam-Wurzeln. Erst die späteren Rituale nehmen einen weiteren Horizont in den Blick, sie verfolgen die Kraft zurück bis zur ihrer Quelle, finden dort die Sonne und den Regen und entwerfen am Ende schließlich einen Geist des gesamten Universums.

 

In ihrer Diskussion um jene Kraft sind die Anthropologen verfahren wie die frühen Archäologen, die ihre Funde zusammentrugen, ohne zu vermerken, woher sie stammten und in welcher Umgebung sie gefunden wurden. Unsere vordringlichste Aufgabe müßte darin bestehen, zu klären, welche verschiedenen Vorstellungen von Seele es gibt. Dies ist zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum möglich, da wir in den seltensten Fälle Aussagen von den Eingeborenen selbst haben, sondern nur die Schlußfolgerungen von Gelehrten, die in aller Regel vorgefaßten Theorien folgen. Wörterbücher gibt es kaum, und wo es sie gibt, erfahren wir nur wenig über den Sprachgebrauch.

 

Wenn einige Menschen oder Dinge ein Wesen oder eine Seele haben, die übertragbar ist,  dann versteht es sich, daß ein Mensch mehr als eine Seele haben kann. Neben seiner eigenen Seele kann er noch jede andere Seele besitzen, die auf ihn übertragen wurde. Aber diese Seele wird damit nicht seine Seele. Nur so ist die Idee der Reinkarnation zu verstehen. Es ist eine von außen bezogene Kraft, die von einem zum anderen weitergegeben wird. Es handelt sich strenggenommen nicht darum, daß ein Mensch in einem anderen Menschen wiedergeboren wird, sondern die eine göttliche Kraft, die in beiden Fleisch geworden ist. Ein Enkel ist nicht die Reinkarnation seines Großvaters, sondern der Kraft, die in dem Großvater war. In den totemistischen Ritualen ist es die Kraft in Form des Lebens, die übertragen wird, und das Leben ist vermutlich jenes der Tierart, dem der Stamm sich verbunden fühlt. Dem Stamm wird so ermöglicht an dem Leben des Tiers teilzuhaben und selbst zu dem Tier zu werden. Einfacher liegt die Sache beim kosmischen Ritual. Sämtliche Seelen aller Dinge, die zusammen das Universum bilden, allem voran die Sonne, werden zum Gott, der von dem einen Oberhaupt des Rituals auf das nächste Oberhaupt übertragen wird. Der Gott aber ist das wahre Oberhaupt des Rituals. Das menschliche Oberhaupt, das Bildnis, das Totemtier oder der Stein ist nur das Gefäß des Gottes.

 

Nun hat uns die Geschichte der Idolatrie gezeigt, daß zu allen Zeiten die Tendenz bestand, das Behältnis mit dem Inhalt zu verwechseln, daß die Menschen dem Bildnis Eigenschaften zusprechen, die dieses nicht besitzen sollte, wenn es nur das Gefäß eines Gottes ist, der vernünftigerweise andere Eigenschaften besitzt. Dasselbe gilt für Könige: Im Zuge der Eroberung immer größerer Reiche und der damit einhergehenden Zentralisation wurde der König derart über die gewöhnlichen Menschen erhoben, daß er praktisch automatisch, wenn man so will, zu einem Gott werden mußte. Es ist diese Phase des Gottkönigtums, von der wir zuerst Kenntnis erhielten – durch das römische Kaiserreich und die Monarchien des Orients. Es hat die Gelehrten zu der Ansicht verleitet, daß ein Gottkönig ein Gott sei, wohingegen er, wie im Falle des Idols, nur sein Äquivalent darstellt.

 

Wir haben gesagt, daß ein Totem das Leben oder die Seele oder das Wesen von etwas anderem ist, das durch das Ritual gelenkt und belebt und dadurch vermehrt wird. Bei einem Gott ist es dasselbe, wenn auch auf einer höheren Stufe der Verschmelzung. Götter müssen ebenfalls belebt werden – ein Gedanke, der uns zugegeben fremd ist. Wir verbinden Göttlichkeit mit Allmacht, doch die Vorstellung, daß Götter zwangsläufig allmächtig sind, ist eine vergleichsweise späte kulturgeschichtliche Erscheinung, von der wir uns lösen müssen, wenn wir je mehr als nur die jüngsten religiösen Entwicklungsformen verstehen wollen. Und noch unter diesen gibt es Ausnahmen: Der Buddhismus hat einen Mensch über die Götter gestellt.

 

Ein Rezensent meines Buches Kingship weigerte sich der Vorstellung zu folgen, daß ein König ein Gott sein könne, mit der Begründung, daß bekanntlich Gebete für die Könige gesprochen wurden. Sein Argument war: Götter sind allmächtig, und für einen allmächtigen Gott müsse man nicht beten. Wenn die Menschen also für den König gebetet hätten, sei dies ein Zeichen dafür, daß der König kein Gott sein könne.

 

Sein Argument bezog sich auf unsere Gottesvorstellung. Er hat nicht verstanden, daß die meisten Götter sehr wohl abhängig sind von den Menschen, daß sie ihre Macht von ihnen erhalten durch die Gebete und Gesänge. Und Indische und griechische Götter mußten ihre Unsterblichkeit immer wieder durch den Genuß von Ambrosia erneuern.

 

Wenn Götter immer schon allmächtig und vom Menschen unabhängig gewesen wären, würde es kein Ritual geben, denn der Sinn und Zweck des Rituals ist es, die Götter dazu zu bringen, uns zu Willen zu sein. Es ist richtig, daß wir uns noch immer rituell an einen allmächtigen und allwissenden Gott wenden, was aber wahrlich ganz inkonsequent ist, denn mit unseren Gebeten werden wir keinen allmächtigen und allwissenden Gott beeinflussen. Wir tun dies aus alter Gewohnheit und wegen der psychologischen Wirkung. Es ist ein Beruhigungsmittel für die Seele, auf das der Mensch nur ungern verzichtet. Wir denken die Dinge nie konsequent zu Ende, deswegen bemerken wir die Widersprüchlichkeit nicht, und wenn wir mit der Nase darauf gestoßen werden – von einem Kind oder von einem Erwachsenen, der sich seine kindliche Denkweise bewahrt hat –, nehmen wir Zuflucht zu fadenscheinigen Begründungen. Wir sagen, daß Gott natürlich am besten weiß, ob und wann er es regnen lassen will, und daß das Gebet ein Ausdruck unseres Gottvertrauens sei. Das ursprüngliche Ritual jedoch war durchaus keine Veranstaltung, um den Menschen Trost zu spenden, vielmehr versprach man sich vom Ritual ganz konkrete, praktische Resultate.

 

Eine andere moderne Vorstellung, die wir auf prähistorische Zeiten übertragen, ist die von der Menschennatur der Götter. Wir haben mit den alten Griechen gelernt, die Götter als schöne, mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Menschen zu betrachten, und können nur schwer von dieser Vorstellung abrücken. In ihren Überlegungen zu den Ursprüngen des Götterglaubens gehen die Gelehrten stets ganz selbstverständlich davon aus, daß die Götter menschliche Gestalt besitzen müssen, und um diese Eigentümlichkeit zu begründen, haben sie dem Menschen eine Fähigkeit untergeschoben, die sie Anthropomorphismus nennen. Es ist dies ein Beleg für die von mir andernorts beschriebene Tendenz des Menschen, besondere Kräfte, Fähigkeiten, Substanzen zu erfinden, die für unerklärliche Phänomene verantwortlich gemacht werden. Der Mensch glaubt, er habe eine neue Beobachtung erklärt, wenn er nur einen neuen Begriff zu seiner Beschreibung erfindet.

 

Die alten Römer haben sich die Götter durchaus nicht als Menschen vorgestellt – bis sie unter den Einfluß der griechischen Kultur gerieten. Ein indischer Autor des siebten Jahrhunderts äußerte sich in einer Schrift verwundert darüber, wie man von Göttern als von Wesen in Menschengestalt reden könne. Die Ägypter haben ihre Götter als Menschen dargestellt, aber auch als Tiere, als geometrische Formen und als Naturerscheinungen wie die Sonne. Die fidschianischen Götter treten in den Mythen für gewöhnlich als Menschen auf, aber auch als Tiere. Ein Fidschianer wird uns erklären, daß das Tier das «Boot» oder der «Körper» ist, den der Gott benutzt, und er wird ergänzen, daß ein anderer Gott als Aufenthaltsort kein «Boot» gewählt hat, sondern einen Menschen. Der Mensch, wie das Tier, ist nur das Vehikel. Ein Gott kann sich verkörpern in einer Muschel oder in einem Stück Tuch. Wenn wir dem Menschen denn also eine besondere anthropomorphistische Kraft zusprechen müssen, dann ebenfalls eine theriomorphistische, eine asteromorphistische u. s. w.

 

Es finden sich keinerlei Belege dafür, daß die Vorstellung von der menschlichen Gestalt der Götter die ursprüngliche wäre, sie ist nur die vorherrschende, und der Grund dafür ist leicht einzusehen. Ein Stein oder ein Baum sind bewegungsunfähig. Das Verhalten eines Tiers ist in der Regel unberechenbar. Allein in Menschengestalt kann der Gott all jene Handlungen und Taten vollführen, die ihm der Mythos, der dem Ritual als Theorie zugrunde liegt, zuschreibt. Als Stein mag der Gott gesalbt werden, aber er kann nicht trinken. Er mag in eine Prozession herumgetragen werden, aber er kann nicht gehen. Aus diesem Grund dominiert die menschliche Gestalt Gottes in den Mythen.

 

Dies gilt auch für die Bildwerke. Es existieren sehr wohl Idole in Tiergestalt, aber die Tendenz scheint zu sein, daß sie nach und nach aufgegeben wurden. Die Gestalt des Königs zumindest verliert im Laufe der Zeit immer mehr animalische Eigenschaften, wohl deshalb, weil der König, wie wir vorgeschlagen haben, die Verschmelzung aller Totems ist und damit aufhört, ein einzelnes zu sein. In dem Maße, wie seine Überlegenheit und Herrschaft über den Rest der natürlichen Welt immer offensichtlicher wurde, scheint der König immer stärker darauf bedacht zu sein, alles Tierhafte von sich zu weisen, nicht zuletzt, weil Anbetung zunehmend mit Respekt und Unterwerfung verbunden wurde. Nichts spricht dagegen, ein Tier zum Objekt einer Kulthandlung zu machen, solange sie keine Respektbezeugung verlangt, sondern nur dem Zweck dient, die Vermehrung des Tiers zu bewirken. Alles ändert sich, wenn aus dem Ritual ein Gottesdienst wird: Vor einem Tier will sich der Mensch schlechterdings nicht erniedrigen.

 

Die Griechen haben den Menschen erhöht, wie dies zuvor kein anderes Volk getan hatte. Folglich haben sie die animalischen Merkmale ihrer Götter nach und nach aufgegeben. Als sie in Ägypten wirkten, ging dies mit einer Vermenschlichung der Religion einher. Das Tier wurde zurückgedrängt oder bis zu Unkenntlichkeit verwandelt. Ammon wird unter den Händen der Griechen von einem widderköpfigen Gott zu einem Menschen, dessen Hörner diskret im Haar verborgen sind. Die Juden gingen einen Schritt darüber hinaus und verboten jede bildliche Götterdarstellung. Sie trieben den Geist der Selbstermächtigung sehr weit – sie geboten, daß sich der Mensch auch vor einem Menschen nicht erniedrigen dürfe. Derselbe Geist wehte im protestantischen Europa: Die Anbetung eines lebenden Menschen wurde abgelehnt, und nicht nur eines lebenden, sondern eines jeden Menschen aus Geschichte und Gegenwart, mit Ausnahme des Einen. Und selbst dies ist für manche stolzen Zeitgenossen noch zu viel, weshalb sie Anthropomorphismen aller Art ablehnen. 

 

‹A. M. H., The Soul (o. J.), in: Social Origins, London 1954. Deutsch von H. A.›

 


[1] Waldemar Jochelsen, «The Koryak» (1908).

[2] Baldwin Spencer, Francis James Gillen, «The Arunta» (1914).

[3] Carl Strehlow, «Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien» (1907–1913).